Spanien will in der Widerspruchsverhandlung durchsetzen, dass ETA Gefangene nach Verbüßung ihrer Strafe weiter inhaftiert bleiben
Die Verurteilung vor dem Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) war im vergangenen Sommer ein harter Schlag für Spanien. Deshalb hatte die konservative Regierung Widerspruch eingelegt, so dass der Fall am vergangenen Mittwoch in Straßburg vor den 17 Richtern der Großen Kammer erneut verhandelt wurde. Im Juli vergangenen Jahres hatte die kleine Kammer des EGMR einstimmig am Fall von Inés del Río als illegal eingestuft, dass ihre Freilassung durch eine nachträgliche Neuberechnung ihrer bereits verbüßten Strafe verhindert worden war. Da die kleine Kammer hinter verschlossenen Türen tagt, trat nun erstmals in aller Öffentlichkeit die Sonderbehandlung zu Tage, der Gefangene der baskischen Untergrundorganisation ETA unterworfen sind.
Die Anwälte Inés del Río haben vor der Großen Kammer argumentiert, dass Spanien keine neuen Argumente beigebracht habe, die das bisherige Urteil in Frage stellen könnten. Der Vertreter der spanischen Regierung hat tatsächlich nur erneut argumentiert, dass es angeblich keine rückwirkende Anwendung einer Verschärfung gegeben habe. Dabei hatten die EGMR-Richter schon im Sommer festgestellt, dass die Baskin vor fünf Jahren nach 21 Jahren im Gefängnis hätte freigelassen werden müssen und hatte Spanien deshalb zu einer Entschädigung von 31.500 Euro verurteilt.
Spanien bestreitet nicht, dass über die Doktrin-Parot, die erstmals 2006 auf das ETA Mitglied Henri Parot angewendet wurde, Strafen neu festgelegt wurden. Der Anwalt Isaac Salama erklärte aber, dass es keine verbotene rückwirkende Anwendung neuer Gesetze gegeben habe, sondern nur das Kriterium für die Strafberechnung verändert worden sei. Er meinte zudem, mehrfacher Mord “kann nicht wie ein einfacher Mord bestraft werden”. Das ist aber kein juristisches Argument, denn Spanien hat die Möglichkeit, sein Strafrecht anders zu gestalten. Das Land hat die Höchststrafe auch schon längst von 30 auf 40 Jahre hinaufgesetzt. Es kann diese Verschärfung aber nicht rückwirkend anwenden, weil das gegen die Menschenrechtskonvention verstößt.
Deshalb hatte man 2006 den Weg über die Neuberechnungen gewählt. Vielen erinnern sich noch an die Worte von Justizminister Fernando López Aguilar, man werde “konstruieren”, um Freilassungen von Basken “zu verhindern”. Dieses zweifelhafte Rechtsstaatsverständnis, hielt ihm auch die konservative britische Tageszeitung Times damals vor. Dass nun am Mittwoch der spanische Innenminister Jorge Fernández auf Nachfragen versicherte, “man kann Justiztechnik” anwenden, wenn das Urteil negativ ausfalle, lässt tief blicken.
Eine Verurteilung Spaniens würde dazu führen, dass neben Del Río weitere 53 ETA-Gefangene freigelassen werden müssten. Die sind nach Ansicht der sieben Richter, die Spanien im Juli 2012 verurteilten, seit Jahren illegal inhaftiert. “Politische Gründe” machten sie im Urteil dafür verantwortlich. Wie die Verteidiger von Inés del Río ist auch der spanische Innenminister offenbar davon überzeugt, dass die Richter in Straßburg dem Druck aus Spanien kaum nachgeben werden und in ihrem Urteil in einigen Wochen zum gleichen Ergebnis kommen wie ihre Kollegen im vergangenen Sommer. Deshalb denkt Fernández schon darüber nach, wie ein solches Urteil ausgehebelt werden kann.
Doch auch in Spanien macht sich bei vielen die Einsicht breit, dass man mit Verstößen gegen Rechtsnormen nicht weit kommt. Deshalb analysiert Luis R. Aizpeolea in der großen Tageszeitung El País am Mittwoch, dass die Regierung ein “goldene Chance verpasst” hat. Sie hätte nach Ansicht des Analysten das bisherige Urteil nie anfechten dürften. Aizpeolea sieht darin auch den Versuch, von den gravierenden Problemen im Land, der Wirtschaftskrise und dem Korruptionsskandal abzulenken, in den die Regierung bis hinauf zu Ministerpräsident Mariano Rajoy verwickelt sein soll.
Im Baskenland herrscht ohnehin ein weitgehender Konsens, dass die Sonderbehandlungen aufhören müssen, um den Friedensprozess nicht zu gefährden. Schließlich hat die ETA vor mehr als einem Jahr den Kampf längst definitiv eingestellt. Das hat auch kürzlich eine internationale Prüfungskommission bestätigt. Der Generalsekretär der Sozialisten im Baskenland, fand im baskischen Fernsehen deshalb auch deutliche Worte. Jésus Eguiguren nannte die Parot-Doktrin “juristischen Pfusch” und griff damit auch seine Madrider Parteiführung an. Denn Aguilar, der für die Doktrin verantwortlich war, war Sozialist. Sie wurde unter einer sozialistischen Regierung eingeführt. Wie er erwarten alle baskischen Parteien, dass Straßburg die Doktrin endgültig kippt, um auf dem Weg zu einer Friedenslösung weiter zu kommen. Dazu müssen “sich alle Seiten” bewegen, wie Eguiguren betont.
© Ralf Streck, den 20.03.2013
Foto: “Keine Minute länger” der Organisation Herrira – im Baskenland beteiligen sich Tausende an Aktionen gegen die Doktrin Parot.