Trotz des vernichtenden Urteils der Straßburger Richter will die spanische Regierung zu Unrecht inhaftierte ETA-Gefangene nicht freilassen
Die Verurteilung Spaniens durch den Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg am letzten Dienstag ist ein harter Schlag für die spanische Gefängnispolitik. Besonders betrifft sie die Sonderbehandlung von Gefangenen der baskischen Untergrundorganisation ETA. Die Richter des EGMR haben eine spanische Praxis für illegal erklärt, mit der bisher oft die Freilassung von ETA-Gefangenen nach der Verbüßung ihrer Haftstrafen verhindert wurde.
Die dafür angewandte Neuberechnung bestehender Haftstrafen hat der Menschenrechtsgerichtshof einstimmig gestoppt. Die Richter ordneten deshalb angeordnet, die Baskin Inés del Río “so schnell wie möglich” frei zu lassen und sie mit 31500 Euro zu entschädigen. Del Río hatte wie andere baskische Gefangene vor dem Gerichtshof geklagt und ihr Fall drang am schnellsten zu den Richtern durch. Eigentlich hätte man sie schon vor gut vier Jahren entlassen müssen – nach 21 Jahren hinter Gittern.
Diese Praxis wurde erstmals im Jahre 2006 auf das ETA-Mitglied Henri Parot angewendet, weshalb sie seinen Namen trägt und als “Doktrin Parot” bezeichnet wird. Seither wurden in etlichen Fällen die Haftstrafen neu berechnet. Strafverkürzungen, die durch Studium oder Arbeit erreicht wurden, wendete die spanische Justiz plötzlich auf die Gesamtstrafe an, zu der der Beschuldigte verurteilt wurde und nicht mehr auf die zulässige Höchststrafe in Spanien. Del Río war zum Beispiel wegen mehrfachen Mordes zu mehr als 3000 Jahren verurteilt worden. Mit Anwendung der Doktrin würde sie die Höchststrafe von 30 Jahre absitzen, anstatt nach 21 Jahren frei zu kommen.
Der spanische Justizminister Jorge Fernández Díaz kündigte an, man werde das Urteil anfechten. Derweil werde man die Baskin nicht entlassen und die Aussetzung des Urteils beantragen. Begründen will er diesen Antrag damit, dass die Baskin “ohne Zweifel fliehen wird”. Auch wenn Spanien das Verfahren vor der Großen Kammer in Straßburg verliere, wolle man die Entschädigung auf keinen Fall bezahlen, kündigte er an. Er nahm damit vorweg, dass auch er seinem Einspruch kaum Erfolgsaussichten beimisst. Ohnehin lässt das einstimmige Urteil kaum Spielraum für Interpretationen zu.
Die Straßburger Richter sehen gleich mehrere Artikel der Menschenrechtskonvention verletzt. “Rechtliche Veränderungen nach der Begehung der Tat können nicht rückwirkend zum Nachteil des Verurteilten angewendet werden”, unterstreichen sie in ihrem Urteil einen demokratischen Grundsatz. Ausdrücklich wird angeführt, “politische Gründe” hätten spanische Gerichte dazu gebracht, die Freilassung von Gefangenen, die wegen Terrorismus-Delikten inhaftiert sind, zu verzögern. Auf diese Weise erklärt sich Straßburg, warum das spanische Verfassungsgericht nicht längst gegen diese Praxis eingeschritten ist.
In mehr als 30 Fällen haben nämlich die höchsten spanischen Richter, anders als jetzt der Menschenrechtsgerichtshof, die Doktrin nicht in Frage gestellt. Nur in drei Fällen wurde die Anwendung wegen Formfehlern durch das Verfassungsgericht abgelehnt. Dabei hatte die Regierung kein Hehl daraus gemacht, dass sie eine längere Strafverbüßung erreichen wollte. Es blieb auch nicht bei der Doktrin Parot. Der sozialistische Justizminister Juan Fernando López Aguilar kündigte 2007 sogar öffentlich an, man werde “neue Anklagen konstruieren”, um Freilassungen “zu verhindern”. In der Zwischenzeit wurde die Höchststrafe auf 40 Jahre erhöht. Anders als bei der Doktrin Parot, wird diese Erhöhung nicht rückwirkend auf bestehende Haftstrafen angewendet.
Beobachter in Spanien gehen davon aus, der Einspruch solle vor allem verhindern, dass Spanien sofort mehrere Dutzend Gefangene freilassen muss, auf die die Doktrin Parot angewandt wurde. Interessant wird sein, wie sich angesichts der Urteils die britische Justiz verhält. Denn in London wurde kürzlich der baskische Ex-Gefangene Antón Troitiño auf Basis eines spanischen Haftbefehls verhaftet. Er war im April 2011 freigelassen worden und sollte auf Basis der Doktrin Parot erneut inhaftiert werden. Er hatte sich durch Flucht der erneuten Inhaftierung entzogen.
Das Urteil fällt fast mit einer Erklärung der ETA zusammen. Diese bekräftigte am Montag den eingeschlagenen Friedensweg. Vor neun Monaten hatte sie angekündigt, den bewaffneten Kampf nach einem halben Jahrhundert definitiv einzustellen. In ihrem aktuellen Kommuniqué beschuldigt sie Spanien und Frankreich, eine Friedenslösung “zu behindern und zu paralysieren”. Die ETA will die Anstrengungen verstärken, um mit beiden Staaten zu Verhandlungen über die Folgen des Konflikts zu kommen. Dazu hatte sie die internationale Friedenskonferenz im vergangenen Oktober in der “Erklärung von Aiete” aufgefordert.
Foto: “Nein zur lebenslangen Strafe”: Plakat von Herrira zur Unterstützung der Klage von Inés del Río vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
Erstveröffentlichung: Ralf Streck, Telepolis, 11.7.2012 weiterlesen >>