Florian Wilde im Gespräch mit Rechtsanwalt Oscar Sánchez, der die baskische Gefangenen-Hilfsorganisation Herrira vertritt.
Sánchez: “Spaniens Sondermaßnahmen sind ein Verstoß gegen die Menschenrechte”
Nach dem Verbot der baskischen Gefangenenhilfsorganisationen Askatasuna und Gestoras por Amnistia wurde eine neue Organisation gegründet: Herrira. Handelt es sich dabei einfach um eine Fortsetzung der alten Organisationen oder um etwas qualitativ Neues?
Die genannten Gefangenenhilfsorganisationen setzten nach den Verboten ihre Arbeit zunächst in der Illegalität fort. Herrira (»Nach Hause«) wurde nun im Kontext der neuen politischen Phase nach dem definitiven Ende des bewaffneten Kampfes der militanten Separatistenorganisation ETA gegründet. Herrira versteht sich als eine neue, plurale Bewegung mit dem Ziel, die Sondermaßnahmen gegen die baskischen politischen Gefangenen zu beenden. Im Baskenland gibt es eine breite gesellschaftliche Mehrheit für ein Ende der Sondermaßnahmen und eine Verlegung der 606 baskischen politischen Gefangenen in heimatnahe Gefängnisse. Herrira will einen politischen Ausdruck für diesen gesellschaftlichen Mehrheitswillen organisieren.
Wie ist die Situation der Gefangenen derzeit?
Man kann ihre Lage am besten als Ausnahmesituation beschreiben. Sie leiden unter einer Reihe von nur auf sie angewendeten Maßnahmen: Sie sind einem speziellen Kontrollregime unterworfen, müssen ihre Haftstrafen grundsätzlich vollständig absitzen und haben keine Chance auf eine vorzeitige Entlassung auf Bewährung.
Was kritisieren Sie an der täglichen Praxis des Strafvollzugs?
Es sind vor allem drei Sondermaßnahmen, gegen die wir uns wenden. Zum einen werden die meisten Gefangenen gezielt möglichst weit von ihren Heimatorten inhaftiert. Im Durchschnitt sind ihre Gefängnisse 673 Kilometer von den Heimatorten entfernt. Am Wochenende ist den Gefangenen für eine Stunde Besuch erlaubt. Ihre Familien und Freunde müssen also jedes Wochenende im Durchschnitt fast 1400 Kilometer fahren, um sie zu besuchen. Allein im letzten Jahr gab es dabei 14 Autounfälle der oft unter starker emotionalen Spannung stehenden Angehörigen. Seit dem Beginn der Verlegung in weit entfernte Gefängnisse sind 16 Menschen bei solchen Autounfällen ums Leben gekommen.
Weiterhin gibt es 13 Gefangene, die schwer erkrankt sind und sofort entlassen werden müssten, um ihnen eine angemessene Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Im März 2013 sind zwei Gefangene infolge ihrer Erkrankungen verstorben.
Schließlich wenden wir uns gegen die sogenannte Doktrin 197/2006. Mit deren Hilfe können die regulären Haftstrafen nochmals um acht, zehn oder sogar noch mehr Jahre verlängert werden, so dass viele Gefangene tatsächlich 30 Jahre im Knast verbringen müssen. Über 70 Gefangene sitzen gegenwärtig trotz Ablauf ihrer regulären Haftstrafen weiter im Gefängnis. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat dies als Verstoß gegen die Menschenrechte verurteilt. Der spanische Staat zeigt sich davon aber bisher unbeeindruckt.
Im Baskenland sieht man allerorts, etwa an Balkonen, Plakate mit dem Slogan »Euskal Presoak – Euskal Herria!« (Die baskischen Gefangenen ins Baskenland!). Wie groß ist die Unterstützung für eine Verlegung der Gefangenen in heimatnahe Gefängnisse in der baskischen Gesellschaft?
Die Unterstützung ist in der Tat groß. Eine Umfrage eines an die baskische Universität angeschlossenen Meinungsforschungsinstituts im November 2012 ergab eine Unterstützung der Forderung nach einer Verlegung der Gefangenen durch 75 Prozent der baskischen Bevölkerung. Im Januar 2013 gab es in Bilbao die bisher größte Demonstration für ein Ende der Sondermaßnahmen und die Verlegung der Gefangenen. Sie hatte 115 000 Teilnehmer. In Baoina hatte es im November letzten Jahres die bisher größte Demonstration im zu Frankreich gehörenden nördlichen Teil des Baskenlandes für die Gefangenen mit 15 000 Teilnehmern gegeben.
Welche neuen Möglichkeiten zur Lösung der Frage der baskischen politischen Gefangenen sehen Sie nach der Erklärung des definitiven Endes des bewaffneten Kampfes durch die ETA?
Die einseitige Erklärung des definitiven Ende des bewaffneten Kampfes durch die ETA hat eine neue politische Phase eingeleitet. Der spanische und der französische Staat haben die Sondermaßnahmen gegen die Gefangenen immer mit der Existenz der ETA begründet. Dieses Argument ist nun hinfällig. Leider zeigt der spanische Staat bisher keine Bereitschaft, auf die von der großen Mehrheit der baskischen Bevölkerung getragenen Forderungen einzugehen. Im Gegenteil: Eben erst wurden die Anträge auf ein vorzeitiges Ende der Haftstrafen gegen führende baskische Linkspolitiker, darunter Arnaldo Ortegi, den Generalsekretär der bei den letzten Wahlen von mehr als 25 Prozent der baskischen Wählern unterstützten Partei Sortu, und Rafa Diaz, Vorsitzender der Gewerkschaft LAB, zurückgewiesen. Verhaftungen unter dem Vorwurf der Unterstützung der ETA gehen weiter, treffen allerdings auf starken Widerstand aus der Gesellschaft. So wurde in den letzten Wochen mit massenhaften Sitzblockaden versucht, weitere Verhaftungen zu verhindern. Im Oktober sollen weitere 40 Mitglieder verschiedener baskischer Linksparteien von einem Sondergericht zu Haftstrafen zwischen acht und zwölf Jahren verurteilt werden. Dagegen versuchen wir eine breite gesellschaftliche Bewegung für eine Lösung der Gefangenenfrage zu organisieren.
Oscar Sánchez ist Anwalt und vertritt die baskische Gefangenenhilfsorganisation Herrira. Mit ihm sprach Florian Wilde.
Foto (AFP/Ander Gillenea, April 2013): Protest vor dem Martutene-Gefängnis in Donostia-San Sebastián
Erstveröffentlichung: Neues Deutschland vom 15.7.2013 weiterlesen >>